Religion.ch: Zwischen Tinder und Scharia

Zürich, 30. Mai 2022 – Seit der Romantik sind wir überzeugt: Die Liebe muss das Fundament einer jeden Ehe bilden. Doch das war und ist nicht überall so. So etwa im Islam. Und wo Ehen oft arrangiert werden, sind Machmaking-Apps heute hoch im Kurs.

Die Idee der Liebesheirat hat sich in Europa erst Ende des 19. Jahrhunderts mehrheitlich durchgesetzt – ein recht junges Pflänzchen also, und nicht sehr tragfähig, wenn man sich die Scheidungsraten in westlichen Gesellschaften vor Augen hält. In traditionellen Gesellschaften, so Rifa’at Lenzin, käme kein vernünftiger Mensch auf die Idee, eine so folgenreiche Entscheidung wie die Eheschliessung lebensunerfahrenen jungen Leuten zu überlassen. Die Ehe wird hier nicht als Verbindung zweier unabhängiger Individuen verstanden, sondern als Verbindung zweier Familien. Dies wiederum fördert die Tendenz, Ehen zu arrangieren.

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Der Einzug viktorianischer Moralvorstellungen

Sexualität wurde im arabischen Raum vor vielen Jahrhunderten freigiebig und offen diskutiert: «Im Namen Allahs, des Barmherzigen, des Erbarmers. Lob sei Allah, der die Oberkörper der Jungfrauen mit Brüsten zierte und die Beine der Frauen zu Plattformen für die Scham der Männer machte, der den speergleichen Penis des Mannes aufrichtete, damit er in die Scheide der Frau stösst, nicht (wie ein richtiger Speer) in die Brust (eines Feindes).» Die Worte von as Suyuti, einem ägyptischen Historiker und Universalgelehrten des 15. Jahrhundert, sind nur ein kleiner Auszug aus der freizügigen arabischen Literatur. Erst der Einzug viktorianischer Moralvorstellungen habe, so die Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin, diesen Frivolitäten ein Ende gesetzt.

Ein blosser Vertrag

Dem entgegen steht die trockene und nüchterne Abhandlung der Shari’a, die die Ehe vertraglich regelt. Sie übergibt dem Mann die Verantwortung für den Lebensunterhalt der Familie. Er habe Anspruch auf sexuelle Beziehung zu seiner Frau und erhalte ihr gegenüber erbrechtliche Ansprüche. Dafür müsse der Mann der Frau Schutz gewähren und für ihren Unterhalt sorgen. Die Frau hat ihr Brautgeld und allfälliges Vermögen zu ihrer freien Verfügung, ist in der Ehe für das Wohlergehen von Mann und Kindern zuständig und soll die sexuellen Ansprüche ihres Mannes erfüllen. Trotzdem sei die Ehe im Islam mehr als nur ein zivilrechtlicher Vertrag. Ein Idealbild komme gemäss Rifa’at Lenzin zum Beispiel in Sura 2:187 im Koran zum Ausdruck: «Sie sind euch ein Gewand, und ihr seid ihnen ein Gewand».

Die Suche nach einem gottesfürchtigen Partner – im 21. Jahrhundert

Wer nach der Shari’a leben und auch seine Partnerwahl streng am Kriterium der Gottesfürchtigkeit ausrichten möchte, hat es nicht so einfach – denn ein zufälliges Zusammentreffen von Gleichgesinnten ist zumindest in der Schweiz unwahrscheinlich. Mira Menzfeld erklärt, dass es zur lockeren Einladung einer attraktiven Bekanntschaft etwa auf ein gemeinsames Essen oft gar nicht komme. Denn wenn sich unverheiratete Männer und Frauen ohne Heiratsabsicht nicht ansprechen oder gar verabreden dürfen, weil das Gott nicht gefällt, bringt das natürlich praktische Kennenlernprobleme mit sich. Kein Wunder also, dass Online-Dating in besonders frommen Kreisen hoch im Kurs ist. Digitale Heiratsvermittlungen sind da eine verbreitete Lösung.

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